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Waffenverbote allein reichen nicht: Männliche Gewaltaffinität muss bekämpft werden

Backiris (iStock)

Backiris (iStock)

Halle, Hanau, Brockstedt, München, Mannheim, Solingen: Nach jedem dieser schrecklichen Attentate rückt die Frage nach mehr innerer Sicherheit in den Mittelpunkt des politischen und öffentlichen Diskurses. Zuletzt hat die Diskussion über Waffengewalt nach den Morden in Solingen bundesweit wieder an Intensität gewonnen. Die Bundesregierung reagierte auf diesen Terrorangriff und das tief erschütterte Sicherheitsempfinden mit einem umfangreichen Maßnahmenpaket. Das sogenannte Sicherheitspaket wurde zwar im Bundestag, aber noch nicht im Bundesrat beschlossen. Diese Verzögerung bietet die Chance, die Maßnahmen kritisch zu überarbeiten.Bisher fehlt bedauerlicherweise eine fundierte Täteranalyse. Es wird nicht ausreichend thematisiert, dass die Gewalt in diesen Fällen fast immer von Männern ausgeht – zunehmend von jüngeren, sozial isolierten und radikalisierten Männern. Diese zentrale Tatsache wird kaum problematisiert, obwohl sie für eine effektive Präventionsstrategie von entscheidender Bedeutung ist.

Rechtsterroristische oder islamistische Attentate, Femizide, häusliche Gewalt oder räuberische Waffengewalt im öffentlichen Raum: die Täter (und Opfer) sind überproportional häufig Männer. Männer machen den Großteil der Tatverdächtigen bei Gewaltdelikten aus. Die Daten des Bundeskriminalamtes (BKA) zeigen deutlich, dass Männer bei schweren Straftaten wie Körperverletzung, Mord und Totschlag sowie Raub überproportional häufig vertreten sind. In den letzten Jahren lag der Anteil der männlichen Tatverdächtigen bei Gewaltdelikten oft zwischen 75 % und 85 %. Bei Delikten wie Mord und Totschlag liegt der Anteil der männlichen Tatverdächtigen noch höher. Gewaltkriminalität wird besonders häufig von sehr jungen Männern begangen. Laut BKA ist die Altersgruppe der 18- bis 30-jährigen Männer überproportional bei Gewaltdelikten vertreten. Insbesondere im Bereich der schweren Körperverletzung und des Raubs sind junge Erwachsene (18- bis 24-Jährige) stark vertreten. Die hohe Gewaltaffinität von insbesondere jungen Männern (ab dem Alter von 30 Jahren nimmt diese ab) hat Gründe, die bei der Entwicklung von Präventions- und Sicherheitskonzepten Berücksichtigung finden müssen.

Um Gewalt effektiv bekämpfen zu können, ist die Berücksichtigung der Täter aber von hoher Bedeutung. Die Gewaltaffinität von immer jüngeren Männern lässt sich auf eine Vielzahl von Faktoren zurückführen, darunter gesellschaftliche Erwartungen an Männlichkeit, der Druck, Stärke und Dominanz zu demonstrieren, sowie soziale und wirtschaftliche Marginalisierung. Die zunehmende Radikalisierung von Männern, die Zunahme von Messergewalt sowie toxische Männlichkeitsbilder stellen eine ernste gesellschaftliche Herausforderung dar. Besonders betroffen sind junge Männer, die aufgrund von sozialer Isolation in Gewaltspiralen geraten. Dazu kommt der Einfluss von Social Media, über die oft radikale Inhalte verbreitet werden und die Plattformen für gefährliche toxische Ideologien bieten. Um die Gewaltaffinität vieler  junger Männer zu reduzieren, braucht es eine Kombination aus Präventions- und Deradikalisierungsmaßnahmen sowie eine konsequente Strafverfolgung.

Prävention - Jungen mehr in den Blick nehmen

Viele junge Männer wachsen in einem Umfeld auf, das von traditionellen oder überholten Rollenbildern geprägt ist, die Stärke, Dominanz und Gewalt als zentrale Merkmale von Männlichkeit definieren. Diese problematischen Vorstellungen werden durch soziale Isolation und den Einfluss radikaler Ideologien oft verstärkt. Für junge Männer, die Ausgrenzung und Ablehnung erfahren, kann Gewalt zu einem scheinbaren Ausweg werden, um Anerkennung, Status oder Kontrolle zurückzuerlangen. In bestimmten sozialen Milieus, in denen aggressives Verhalten - von Catcalling bis Körperverletzung - als Zeichen von Stärke oder „echter“ Männlichkeit gilt, findet dieses Verhalten zusätzlichen Zuspruch.

Wenn junge Männer keine alternativen Wege sehen, Respekt oder Zugehörigkeit zu erlangen, wird Gewalt dann häufig zu einem Mittel, um diese Bedürfnisse zu befriedigen. In Gruppen, die Gewalt verherrlichen – wie radikalisierten politischen Gruppierungen, extremistischen Netzwerken oder kriminellen Banden – finden sie oft Bestätigung und eine Gemeinschaft, die ihnen das Gefühl von Bedeutung und Stärke gibt. In solchen Strukturen wird Gewalt nicht nur toleriert, sondern häufig als legitimes Mittel zur Zielerreichung angesehen. Das verstärkt Gewaltaffinität weiter. Die Ausübung von Gewalt gibt diesen jungen Männern das Gefühl, nicht länger Opfer äußerer Umstände zu sein, sondern das Geschehen aktiv zu kontrollieren. Dies verstärkt ihr Bedürfnis nach Machtausübung und kann zu einer gefährlichen Verfestigung dieser Rollenmuster führen.

Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, ist gezielte Jungenarbeit von zentraler Bedeutung. Frühzeitige Interventionen, die alternative Männlichkeitsbilder vermitteln, soziale Kompetenzen fördern und Perspektiven jenseits von Gewalt aufzeigen, helfen dabei. Nur durch solche präventiven Maßnahmen kann verhindert werden, dass sich diese destruktiven Rollenbilder dauerhaft in aggressivem Verhalten manifestieren. Auch die Förderung von Empathie, Konfliktlösungsstrategien und emotionaler Intelligenz muss dabei eine zentrale Rolle spielen.

Wir brauchen daher dingend:
1.    eine Evaluation der bestehenden Angebote für Jungen und junge Männer
2.    einen Ausbau spezifischer und interkultureller Jungenarbeit in Kitas, Schulen, Jugend- und Geflüchteten-Einrichtungen
3.    spezifische Mentoring-Programme, in denen junge Männer positive Vorbilder aus der eigenen Gemeinschaft finden und intensiv begleitet werden
4.    schnelleren Zugang zu Bildung und Berufsorientierung für junge Zugewanderte
5.    deutlich mehr Angebote für junge Männer in Gemeinschaftsunterkünften

Deradikalisierung und Bekämpfung von Hass und Gewalt

Extremistische Ideologien – wie Rechtsextremismus, Islamismus oder die Incel-Bewegung – bieten Männern oft eine vermeintliche Lösung gegen gefühlte Entmachtung, Orientierungslosigkeit oder Frustration, indem sie klare Feindbilder und die Möglichkeit zur Selbstermächtigung durch Gewalt propagieren. Diese Ideologien bietenen einfache Erklärungen für komplexe gesellschaftliche Probleme und geben ein Gefühl von Kontrolle und Bedeutung zurück. Besonders in Zeiten wirtschaftlicher Krisen, politischer Instabilität oder persönlicher Marginalisierung sind viele Männer empfänglich für diese Botschaften, da sie ihnen eine vermeintliche Antwort auf ihre Unsicherheiten bieten.

Eine weitere Anziehungskraft extremistischer Gruppen liegt in der Dynamik innerhalb dieser Gemeinschaften. Sie schaffen ein starkes Gefühl von Kameradschaft, Solidarität und Zugehörigkeit, das vielen Männern fehlt, die sich isoliert oder ausgeschlossen fühlen. In diesen Gruppen erhalten sie Bestätigung, Anerkennung und das Gefühl, Teil eines größeren, bedeutungsvollen Ziels zu sein, das über ihre individuellen Probleme hinausgeht. Dies stärkt nicht nur Identität und Status, sondern bietet ihnen auch eine klare soziale Struktur, in der sie sich positionieren können.

In diesen extremistischen Strukturen wird die Gewaltaffinität nicht nur gefördert, sondern auch als legitimes Mittel zur Erreichung ihrer Ziele angesehen. Gewalt wird nicht länger als verwerflich betrachtet, sondern als notwendiger und gerechtfertigter Weg zur Verteidigung der eigenen Ideologie und zur Bekämpfung der konstruierten Feindbilder. Diese Radikalisierung führt dazu, dass Gewaltbereitschaft systematisch verstärkt und Hemmschwellen, Gewalt anzuwenden, immer weiter gesenkt werden.

Daher treten wir ein für:
1.    die Stärkung von Beratungsstellen, die speziell auf die Prävention von Extremismus und auf Deradikalisierungsmaßnahmen ausgerichtet sind
2.    die Einführung spezieller Module in Schulen und vor allem Berufsschulen (!), die sich mit den Themen Radikalisierung, religiöser Vielfalt und demokratischen Werten befassen – sowie mehr Fortbildungsprogramme für Lehrkräfte, die auf die Erkennung von Anzeichen der Radikalisierung und den Umgang mit radikalen Tendenzen spezialisiert sind
3.    psychologische Betreuung und Traumaaufarbeitung für junge Männer, die Gewalt erlebt haben oder gefährdet sind, in extremistische Strukturen zu geraten, sowie Programme zur Resozialisierung und Reintegration von jungen Männern, die bereits radikalisiert wurden.
4.    Förderung von Projekten, muslimischen Gemeinden und religiösen Führern, die glaubwürdige Gegenbotschaften zu islamistischer Propaganda entwickeln und religiösen Missbrauch durch extremistische Gruppen entgegentreten.

Regulierung von Hass-Treibern und Immunisierung junger Männer

Radikale und toxische Inhalte verbreiten sich auf Plattformen wie X, YouTube, TikTok oder Telegram mit erschreckender Geschwindigkeit. Diese Plattformen bieten extremistischen Gruppierungen ein breites Publikum und einen direkten Zugang zu potenziell anfälligen jungen Männern, die sich ausgegrenzt, marginalisiert oder frustriert fühlen. Die Algorithmen der sozialen Netzwerke verstärken diesen Effekt, indem sie auf die Maximierung von Engagement ausgerichtet sind und radikale Inhalte häufig polarisierende Emotionen hervorrufen – die wiederum zu mehr Klicks und Interaktionen führen. Dies sorgt dafür, dass solche Inhalte jungen Nutzern immer wieder bevorzugt vorgeschlagen werden und ihre Wahrnehmung der Realität allmählich verzerren.

Die Verbreitung solcher gefährlichen Inhalte wird durch die Anonymität und fehlende Regulierung auf Plattformen wie Telegram zusätzlich begünstigt. Dort können extremistisches Gedankengut und Verschwörungstheorien weitgehend unbehelligt kursieren, ohne dass rechtliche Konsequenzen folgen. Es ist daher längst höchste Zeit für eine konsequentere und gezieltere Regulierung dieser Plattformen. Plattformbetreiber müssen stärker in die Pflicht genommen werden, um die Verbreitung von Hass, Lügen und radikalen Inhalten aktiv zu verhindern. Dies könnte durch striktere Richtlinien, eine bessere Überwachung von Inhalten und schnelleres Eingreifen bei Regelverstößen geschehen. Algorithmen, die extremistische Inhalte fördern, müssen transparent gemacht und angepasst werden, um nicht weiterhin die Radikalisierung zu befeuern.

Genauso wichtig wie diese regulatorischen Maßnahmen ist die Prävention durch Bildung. Junge Menschen müssen frühzeitig gegen den Hass im Netz sensibilisiert und immunisiert werden. Dies bedeutet, ihnen beizubringen, manipulative Inhalte zu erkennen und kritisch zu hinterfragen, sowie ihre Medienkompetenz zu stärken. Sie müssen in die Lage versetzt werden, die Mechanismen von Desinformation, Propaganda und radikalem Gedankengut zu verstehen, damit sie nicht Opfer dieser gefährlichen Strukturen werden. Schulen, Eltern und Jugendorganisationen spielen hier eine zentrale Rolle, um jungen Menschen alternative Wege aufzuzeigen und sie gegen den Einfluss extremistischer Ideologien zu wappnen. Der Aufbau von Resilienz gegenüber Hassbotschaften und die Förderung eines offenen, respektvollen Dialogs sind entscheidende Bausteine, um der Radikalisierung im Netz langfristig entgegenzuwirken.

Wir setzen uns daher ein für:
•    Aufklärungskampagnen für Jugendliche und junge Erwachsene über die Gefahren von extremistischen Inhalten im Netz
•    Entwicklung von Präventionskampagnen in sozialen Medien, die junge Menschen direkt ansprechen und alternative Narrative zu extremistischen Inhalten bieten.

Konsequente Strafverfolgung, Haftbegleitung und Resozialisierung

Die konsequente Strafverfolgung von jungen Männern, die gewalttätig geworden sind, ist unerlässlich, um klare Grenzen aufzuzeigen und Wiederholungstaten effektiv vorzubeugen. Gewalt darf nicht ohne spürbare und nachhaltige Konsequenzen bleiben.Denn schnelle und direkte Sanktionen wirken abschreckend und signalisieren, dass die Gesellschaft solches Verhalten in keiner Form toleriert.
Die Innenbehörden und Gerichte müssen sicherstellen, dass Verfahren zügig abgeschlossen werden, damit die Strafen in einem zeitlichen Zusammenhang zur Tat stehen, und dass die Urteile angemessen, gerecht und für die Öffentlichkeit nachvollziehbar sind. Neben der gerichtlichen Bestrafung ist eine enge, rehabilitative Begleitung der jungen Männer während und nach der Haft von entscheidender Bedeutung. Nur so kann verhindert werden, dass sie sich weiter in Gewaltstrukturen verstricken.
Zusätzlich ist es wichtig, dass die Täter auch nach ihrer Haftstrafe intensiv betreut werden, etwa durch Resozialisierungsprogramme, die den Wiedereinstieg in die Gesellschaft fördern und alternative Perspektiven aufzeigen. Daher ist der Erhalt und Ausbau von Straffälligenprojekten unerlässlich.

Bremen, den 24. Oktober 2024