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Prävention, Schutz, Hilfe: Suizid ist vermeidbar
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HINWEIS: Sollten Sie selbst von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der anonymen Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner*innen.
Telefonnummern der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 www.telefonseelsorge.de
Telefonberatung für Kinder und Jugendliche: 116 111
www.nummergegenkummer.de
90 Menschen haben im Land Bremen 2023 einen Suizid als vermeintlich letzten Ausweg gewählt. Aus einem Gefühl heraus, ihre Lebenssituation nicht mehr aushalten und nicht mehr ändern zu können oder eine Belastung für andere zu sein. Keine der betroffenen Personen wollte schon immer sterben, es handelt sich um keine wirklich freie Entscheidung, sondern um den nur gefühlt letzten Ausweg. Es starben 39 Frauen und 51 Männer. Hinzu kommt eine statistisch nicht erfasste Anzahl an Suizidversuchen, welche geschätzt bei mindestens 900 liegen dürfte. Diese enden teilweise in lebenslangen, schweren Beeinträchtigungen. Die meisten Suizide werden durch Erhängen, eine Überdosis Medikamente oder Drogen sowie einem Sprung aus großer Höhe vollzogen. Bundesweit geht man von etwa 10.000 Suiziden jährlich aus. Nach langjährigem Rückgang ist die Zahl zuletzt wieder angestiegen. Das sind fast viermal so viele Opfer, wie sie an Verkehrstoten zu beklagen sind und über dreißig Mal so viele Menschen, wie ermordet werden. Um die Privatsphäre zu wahren und Nachahmungseffekten zu vermeiden, berichten die Medien aus guten Gründen nur zurückhaltend über Suizide. Dies darf aber nicht dazu führen, dass die Prozesse und Wege hin zu Selbsttötungen und die vielfältigen Möglichkeiten zu ihrer Verhinderung weiterhin oft unbeachtet und unbearbeitet in einer gesellschaftlichen Tabuzone verborgen bleiben.
Der Stillstand im Bereich der Suizidprävention der letzten Jahrzehnte ist auch mit sozialer Tabuisierung zu begründen und stellt eine eigene Tragödie dar: Er hat Menschenleben gekostet und ist für viele Pflegefälle verantwortlich. Dieser Rückstand ist nicht in wenigen Monaten aufzuholen. Die Vorschläge dieses Positionspapiers werden das Problem nicht abschließend lösen. Weiterhin bedarf es eines breit gefächerten und kontinuierlichen Austausches zwischen allen beteiligten Stellen. Hierbei sind vor allem die Senatsressorts für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz, für Bau, Mobilität und Stadtentwicklung, für Bildung und Kinder sowie für Inneres und Sport gefordert. Außerdem müssen auch die Betreiber*innen von Hilfsangeboten sowie Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen mit an einem Runden Tisch sitzen. Trotz der Vielseitigkeit und des notwendigen komplexen Zusammenspiels der Akteur*innen gilt es, wichtige Eckpfeiler zum Schutz von Menschenleben zu setzen und die inakzeptabel hohe Zahl der Suizide sowie der Suizidversuche zu reduzieren.
Kampagne zur Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen und Suizidalität
Menschen mit psychischen Erkrankungen und Suizidalität werden in der Gesellschaft immer noch stigmatisiert. Sie gelten vielen als charakterschwach, selbst schuld an ihrem Leiden und teilweise sogar als gefährlich. Es entsteht Angst vor sozialer und beruflicher Ausgrenzung. In Familien wird über das Thema nicht oder nur ungern gesprochen. Deshalb wird erst spät oder nie Hilfe aufgesucht. Hilfe, die dringend notwendig ist. Diese gesellschaftliche Stigmatisierung und Tabuisierung ist ein großes Hindernis in der Versorgung psychisch erkrankter Menschen. Ihr muss deshalb entschieden entgegengetreten werden.
Um die Kampagne auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen, bedarf es einer dauerhaft begleitenden Evaluation auf Grundlage wissenschaftlicher Daten. Mittels dieser Erkenntnisse sollte eine fortlaufende Anpassung der Strategie erfolgen, um einen möglichst großen Mehrwehrt für alle zu gewinnen. Der Adressat ist hier die Bundesebene.
Ausbau und Verbesserung der niedrigschwelligen Hilfsangebote
Für Personen in psychosozialen Krisen sind vor allem schnell erreichbare, unbürokratische, kostenlose und zum Teil auch anonym wahrnehmbare Hilfsangebote von Bedeutung. Weiterhin müssen die Hilfsangebote für Betroffene gut zugänglich sein und der Zielgruppe entsprechen. Informationen müssen leicht verständlich zur Verfügung gestellt werden.
Es gibt bereits überregionale Angebote in Form von Chats oder der Telefon-Seelsorge, welche rund um die Uhr in Anspruch genommen werden können. Solche Angebote befinden sich häufig in der Hand von karitativen Organisationen oder in kirchlicher Trägerschaft, wobei ein nicht unerheblicher Anteil der Mitarbeitenden sich als Ehrenamtliche engagieren. Darüber hinaus kann der örtliche Sozialpsychiatrische Krisendienst in Anspruch genommen werden. Dieser ist grundsätzlich für die Hilfe bei psychischen Krisen und Suizidalität beauftragt. Ein Hindernis stellen hierbei die Öffnungszeiten dar, welche keine lückenlose Versorgung abbilden. Außerhalb der Öffnungszeiten von Hilfsangeboten können Betroffene die Nachtcafés in Bremen und Bremerhaven aufsuchen oder telefonischen Kontakt aufnehmen, wobei aber keine durchgängige ambulante Hilfeleistung gewährleistet werden kann. Darüber hinaus gibt es noch weitere Hilfsangebote, welche wichtige Arbeit verrichten. Doch auch diese können in ihrer Ausgestaltung keine lückenlose und flächendeckende ambulante Versorgung sicherstellen. In einer seelischen Krise können Menschen auch in den Notaufnahmen psychiatrischer Kliniken vorstellig werden, welche bei einer akuten Gefahr eine Aufnahme sicherstellen müssen; die Angst vor einer freiheitsentziehenden Unterbringung kann Betroffene jedoch davon abhalten, dieses Angebot zu nutzen. Seitdem das Rückzugshaus aufgrund des Wegfalls der Finanzierung durch die Krankenkassen geschlossen werden musste, fehlt zudem ein außerklinisch betreuter Rückzugsort mit der Möglichkeit einer Krisenübernachtung. In der Konsequenz bleiben Menschen in Not allein mit ihren Ängsten und Sorgen.
Es muss gewährleistet werden, dass es ein möglichst breites Portfolio an ambulanten sowie niedrigschwelligen Hilfsmöglichkeiten gibt, welche rund um die Uhr aufgesucht werden können und die über eine zentrale Koordinierungsstelle erreichbar und verknüpft sind. Der Senat muss sich auch auf Bundesebene dafür einsetzen, dass eine bundeseinheitliche Krisendienst-Rufnummer für Personen in psychischen Notlagen geschaffen wird, um eine bestmögliche Übermittlung in Hilfsangebote zu gewährleisten.
Einführung von suizidpräventiven Lehrinhalten in Schulen
Minderjährige sind in der medizinischen Versorgung abhängig von ihren Erziehungsberechtigten. Die Wahrnehmung von medizinischen Maßnahmen gegen den Willen der Eltern ist zwar grundsätzlich erlaubt, aber auch mit zwischenmenschlichen Konflikten verbunden. Darüber hinaus ist die psychische Gesundheit von Jugendlichen schlechter geworden, was die Notwendigkeit von gezielten Maßnahmen für eine junge Zielgruppe unterstreicht. Richtigerweise gibt es an Bremer Schulen schon ein organisatorisches Hilfsnetz in Form von Abläufen im Falle der Äußerung von Suizidgedanken oder eines Suizidversuchs. Darüber hinaus sind bereits vereinzelt an Grundschulen „Gesundheitsfachkräfte an Schulen“ (GeFaS) beschäftigt, welche dort bei allen Beteiligten die Gesundheitskompetenzen stärken sollen. Es gibt eine große wissenschaftliche Evidenz, dass auch Kinder im Grundschulalter sich mit Gefühlen wie Wut, Freude, Glück und Niedergeschlagenheit altersgerecht auseinandersetzen können und wollen. Häufig geht es in den Gesprächen mit den GeFaS auch um die Kind-Eltern-Beziehung oder die Beziehung zu Geschwistern und Freunden. Außerdem gibt es die „Regionalen Fachkräfte für psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“ (ReFaps). Diese sind innerhalb eines Quartiers und auch an den dort ansässigen Schulen ansprechbar. Eine konkrete, für alle verpflichtende und qualitätsgesicherte inhaltliche Auseinandersetzung mit den Themen psychische Gesundheit und Suizidalität gibt es aber nicht. Vor allem Jugendliche sind als eine vulnerable Gruppe darauf angewiesen, flächendeckend unterstützt zu werden. Deshalb muss an Schulen ein evidenzbasiertes Programm zur Stärkung der psychischen Gesundheit eingeführt werden, um bereits die Entstehung von Suizidgedanken zu verhindern.
Beispielhaft lässt sich hier das Präventionsprogramm „Youth Aware of Mental Health (YAM)“ nennen. Dies wurde bereits wissenschaftlich evaluiert und hat nachweislich einen positiven Einfluss auf den Umgang mit Suizidalität unter Schüler*innen. Darüber hinaus kann es die Anzahl von Suizidversuchen bei den Teilenehmenden verringern und Suizidgedanken entgegenwirken.
Gatekeeper-Trainings
Sogenannte „Gatekeeper“ sind Personen, welche sich in einem professionellen Umgang mit Menschen in potenziellen psychosozialen Krisen befinden. Nennenswert sind hier Pflegekräfte, ärztliches Personal oder Mitarbeitende des Rettungsdienstes, wobei die Liste sich auch auf Sozialarbeiter*innen sowie Lehrpersonal ausweiten lässt. Ziel soll eine Sensibilisierung sowie die Information über mögliche Hilfsangebote sein. Von besonderer Bedeutung ist hier die qualitativ hochwertige Fortbildung durch Expert*innen. Betroffene mit Anzeichen von Suizidalität können somit besser erkannt werden und unkompliziert Informationen erhalten sowie in Hilfsangebote weitergeleitet werden. Darüber hinaus können die Gatekeeper als niedrigschwellige Ansprechpartner agieren, bei denen Betroffene keine Sorgen vor Stigmatisierung haben müssen.
Bauliche Absicherung von Bauten, Brücken und Bahnabschnitten
Es gibt Orte, die Menschen mit Suizidabsichten anziehen. Bestimmte Brücken werden wiederholt für Suizidhandlungen genutzt: Die Brüstung kann mit geringem Aufwand überstiegen werden, der Sturz in die Tiefe ist nicht abgesichert. Häufig geschehen solche Handlungen im Affekt, sind nicht groß geplant. Hier können relativ einfache Maßnahmen einen Sprung verhindern. Ein Schild mit einer Notfallnummer kann bereits reichen, um ein Menschenleben zu retten. Auch Fangnetze, die den Sturz in die Tiefe direkt verhindern, zeigen ihre Wirkung. Obwohl diese Hindernisse ohne Aufwand überwunden werden könnten, schaffen sie eine gewisse Barriere, um Personen vor tödlichen Kurzschlussreaktionen zu bewahren. Derartige Barrieren reicht oft aus, den Menschen die entscheidenden Sekunden zu geben, um noch einmal über die Konsequenzen und den gegebenenfalls noch bestehenden Wunsch zu leben nachzudenken.
Das gleiche Prinzip gilt bei Bahngleisen. Hier reicht bereits ein Zaun von zwei Kilometern Länge in beide Richtungen vom Hotspot aus, um Suizide zu verhindern. Obwohl es ohne weiteres möglich wäre, dem Zaun bis zum Ende zu folgen, können die kurzen Momente der Verunsicherung lang genug sein, um dem Tod auf den Schienen entgegenzuwirken.
Die Absicherung von Hotspots führt in der Regel nicht zu einer bloßen Verlagerung. Häufig unternehmen Betroffene, welche aufgrund der Barrieren von einem Suizid abgesehen haben, keinen weiteren Suizidversuch direkt im Anschluss. Kleine Maßnahmen sind also wirksam. Es gilt daher diese Hotspots im Land Bremen ausfindig zu machen und entsprechend abzusichern. Bisher fehlt den zuständigen Stellen hierfür noch die Datengrundlage, weshalb diese durch eine zentrale Erfassung von Suizid-Hotspots geschaffen werden muss. Die gewonnenen Erfahrungen müssen bei neuen Bauprojekten direkt Beachtung finden und in Bauvorschriften verfestigt werden.
Wir fordern vom Senat:
- die Einrichtung eines ressortübergreifenden und interdisziplinären Runden Tisches Suizidprävention unter Federführung des Gesundheitsressorts;
- die Schaffung einer gesicherten Datenlage, um Ursachen, Suizidorte, Alter, Geschlecht etc. zu berücksichtigen, möglichst auch zu Suizidversuchen;
- eine bessere Vernetzung der Hilfsangebote unter Federführung der Sozialpsychiatrischen Dienste und der Gesundheitsämter;
- die Sicherstellung einer ambulanten Rund-um-die Uhr-Versorgung für Menschen in seelischen Krisen;
- eine Berücksichtigung der Suizidprävention in Bauvorschriften und eine Absicherung möglicher Hotspots von Suiziden;
- ein Präventionsprogramm an Schulen zur Stärkung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen;
- die Sozialpsychiatrischen Dienste und insbesondere ihren Kriseninterventionsdienst zu stärken;
- die Verhandlungen mit den Krankenkassen über die Einrichtung eines neuen, außerklinisch betreuten Rückzugsort mit der Möglichkeit einer Krisenübernachtung wieder aufzunehmen bzw. zu intensivieren;
- sich auf Bundesebene für eine einheitliche Krisendienst-Rufnummer sowie für eine wissenschaftlich begleitete Kampagne zur Entstigmatisierung von psychischen Krankheiten und Suizidalität einzusetzen.