Verkehr

Mobilität während und nach der Coronakrise: Aus der Verkehrswende darf keine Verkehrtwende werden

Bremer Straßenbahn by venemama (iStock)

Bremer Straßenbahn by venemama (iStock)

Neue Kriterien der Verkehrsmittelwahl

Die Coronakrise hat in den Zeiten der Kontaktbeschränkung zu einer gravierenden Veränderung  im Mobilitätsverhalten geführt. Es ist anzunehmen, dass diese Auswirkungen nach einer Bewältigung der Pandemie weiter wirksam sein werden.   Wegen des Infektionsschutzes werden auch nach der Phase strenger Ausgangsbeschränkungen auf absehbare Zeit Abstandsregeln eingehalten werden müssen. Damit gehen zunächst veränderte Anforderungen an Nutzung und Gestaltung des öffentlichen Raumes einher. Die Verkehrsmittelwahl könnte zudem zukünftig von anderen Kriterien beeinflusst werden als von Zeitaufwand, Schnelligkeit, Komfort, Preis oder Verkehrssicherheit. Hygiene, Sauberkeit und ausreichender Abstand zu Mitreisenden werden an Bedeutung gewinnen.

Coronakrise: Vom Massen- zum Individualverkehr

Die aktuellen Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten sind erheblich. Es gab eine Verringerung aller Verkehre. Das war durch Schließung der Schulen, Kindergärten Universitäten, Kurzarbeit, Homeoffice und Videokonferenzen zu erwarten. Ein merklicher Trend von Massenverkehrsmitteln zum Individualverkehr war die Folge. Der Flugverkehr kam fast zum Erliegen. Ebenso traf es die Linienbusverkehre wie Flixbus. Der öffentliche Nahverkehr hatte Einbußen von 50 bis zu 80 Prozent. 

Die Bremer Straßenbahn AG muss gravierende Einbußen hinnehmen und hat ihren Fahrplan auf einen modifizierten Samstagsfahrplan abgeändert. Inzwischen wird wieder mit voller Kapazität gefahren jedoch flexibler nach Bedarf. Die Einbußen bei der BSAG belaufen sich auf 70 bis 80 Prozent. Das sind dann 150.000 bis 170.000 Euro Verlust pro Tag. Das dürfte sukzessive weniger werden. Dennoch ist ein zusätzliches Minus von 25 Millionen Euro in diesem Jahr zu erwarten. Auch die Deutsche Bahn registriert empfindliche Fahrgasteinbußen. Das Aufkommen im Personenverkehr ist massiv eingebrochen. Im Fernverkehr liegt es etwa bei 10 bis 15 Prozent des Normalniveaus, im Regionalverkehr bei rund 15 Prozent. Auch zu Ostern registrierte die Bahn nur einen Bruchteil der üblichen Passagierzahlen. Gleichzeitig werde im Fernverkehr mit 75 Prozent der Kapazität gefahren, im Regionalverkehr sind es etwa zwei Drittel.

Sämtliche Sharingmodelle erleben bundesweit eine große Krise. Carsharing muss nicht nur durch den Wegfall von Arbeits- oder Urlaubsfahrten starke Einbußen hinnehmen. Auch die E-Scooter-Leihe ist deutlich zurückgegangen.  Diese bundesweiten Entwicklungen treffen uneingeschränkt auch für Bremen zu. Cambio hat auf Kurzarbeit umgestellt. Aus logistischen und wirtschaftlichen Gründen ist es kaum möglich, den Wagen bzw. den Scooter nach jeder Fahrt zu säubern. Die Nutzer*innen müssen sich also selber schützen, was neben dem teilweisen Wegfall von Fahrtanlässen (berufliche Meetings, Urlaub) zu deutlichen Rückgängen geführt hat.

Die relativen Gewinner der Anteile im Modal Split sind Fuß- und Radverkehr sowie der automobile Individualverkehr. Es ist bei diesen Fortbewegungsarten einfacher, die Abstandsregeln einzuhalten. In Städten wie Bogota, New York, Wien, Paris oder Berlin wurden aufgrund der insgesamt abgenommenen Verkehrsfrequenz und um die Abstände beim Überholen bzw. Begegnen zu erhöhen Fahrspuren vor allem für den Radverkehr temporär umgewandelt („Pop-Up-Bike-Lanes“).

Der Kampf gegen die Klimakrise bleibt notwendig und darf nicht verringert werden

Die Klimakrise ist in der öffentlichen Wahrnehmung durch die Coronakrise im Moment verständlicherweise überdeckt. Klimawandel, Artensterben, Naturzerstörung sowie Bevölkerungswachstum zählen auch zu den Ursachen solcher Pandemien, und dass deren Wahrscheinlichkeit deshalb zunimmt. 

Bei der Klimakrise handelt es sich um eine dauerhafte Veränderung, bei der es nicht mehr darum geht, ob sie kommt, sondern wie gravierend sie sein wird. Sie ist eine existentielle Bedrohung für sehr viele Millionen Menschen und Generationen. Der Verkehrsbereich hat seinen Gesamtausstoß seit 1990 sogar noch leicht erhöht. Er ist ein zentraler Problembereich, um die Erreichung der Klimaziele noch annährend zu erreichen. Eine dafür notwendige Verkehrswende wird nur mit einem insgesamt starken Umweltverbund aus Fuß-, Rad- und öffentlichem Verkehr im Verbund mit Sharingmodellen gelingen. Vom Modal Split hat Bremen gerade für den Fuß- und Radverkehr gute Werte, die aber längst nicht ausreichend sind. Dieser Verbund ist durch Corona nachhaltig in Gefahr. Im besten Fall erholt sich der öffentliche Nahverkehr durch gezielte Maßnahmen und Unterstützungen nach einiger Zeit unbeschadet. Ein Trend zur individuellen Mobilität nach Corona könnte sich hingegen als Gift für die Verkehrswende erweisen. Eine Verkehrswende, die auf einer individuellen Mobilität aus Elektrofahrzeugen und Fahrrädern basiert, wird weder zeitlich noch vom Wirkungsgrad die erwünschten Ergebnisse erzielen. 

Der öffentliche Nahverkehr besitzt eine unverzichtbare Rolle im Sinne der soziale Teilhabe für Menschen, die kein eigenes Auto haben bzw. haben wollen sowie für ältere und bewegungseingeschränkte Menschen. Diese Menschen, die wegen der Ansteckungsgefahr gerade nicht Bahn fahren, brauchen eine möglichst gute Alternative. 

Die Flächenausweitung für den Radverkehr ist Bestandteil einer Verkehrswende. Nicht nur wegen besserer Anreize für die Radnutzung sowohl im Sinne der Teilhabe als durch die Einhaltung von Abständen und die Verbesserung der Verkehrssicherheit muss dies forciert werden. Es ist anzunehmen, dass aufgrund der Coronakrise dauerhaft mehr Menschen auf das Fahrrad umsteigen. Dies kommt zu unseren Anstrengungen um einen höheren Radanteil noch hinzu.

Sorgenkind oder Hoffnungsträger: Der öffentliche Nahverkehr in der Krise

Nach überschlägigen Modellrechnungen sind im ÖPNV und SPNV Erlösausfälle von bis zu 10 Milliarden Euro in Deutschland zu befürchten. Bei einer möglichen zweiten Welle der Pandemie könnte dies noch größer werden.  Die Gesellschaft „erlernt“ gerade anderes Abstandsverhalten als es unseren bisherigen gesellschaftlichen Konventionen entspricht. Es ist zu erwarten, dass dies Auswirkungen auf unser Verhalten nach der Bewältigung der Coronakrise haben wird. 

Nach den Regeln des Verbandes deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) sind bis zu 4 Personen pro Quadratmeter in den Fahrzeugen akzeptabel. Das dürfte der Vergangenheit angehören. Eng gedrängte Fahrgäste in Bussen, Bahnen und Zügen  bei der Rush-hour dürften von vielen Nutzer*innen auch nach der Krise als unattraktiv empfunden werden. Mit einem Weiter-So könnte der öffentliche Nahverkehr der Verlierer der Coronakrise sein.

Vorläufige Schlussfolgerungen und Vorschläge zur Stärkung der Verkehrswende während und nach Bewältigung der Coronakrise                                                                                                                                                         

  1. Eine Umverteilung öffentlichen Raumes zur besseren Einhaltung von Abstandsregeln wird notwendig sein. Es geht darum, den begrenzten Raum besser zu nutzen. Platzverschwendung wird auch nach Bewältigung der Coronapandemie verringert werden müssen. Die Debatte darüber muss in Bremen offen und ohne falsche Tabus geführt werden. 
  2.  Der beschlossene Bürgerschaftsantrag zur Einrichtung von Geschützten Fahrradstreifen muss prioritär an geeigneten Standorten umgesetzt werden. Um bei einer Zunahme des Radanteils Abstände besser einhalten zu können und die Verkehrssicherheit zu erhöhen, sind vorhandene Engstellen insbesondere in der inneren Stadt zum Beispiel Bischofsnadel oder Kreuzungsbereiche abzubauen.
  3. Der Fußverkehr muss seine ihm eigentlich vorbehaltenen Flächen behalten. Die Gehwegbreiten in vielen Bremer Wohnstraßen sind durch die Praxis des aufgesetzten Parkens in Bremen absolut nicht ausreichend. Bei Begegnungen sind Abstände nicht annährend einzuhalten. Aus Verkehrssicherheitsgründen ist die Nutzung der Fahrbahn keine wirkliche Alternative. Hier sind Mindeststandards von 2 Meter Gehwegbreite in der Regel einzuhalten und sukzessive Engstellen baulich abzubauen. Das Ordnungsamt und die Polizei sind derzeit stark durch die Corona-Pandemie belastet. Deswegen ist die Entscheidung in diesen Bereichen personell nachzubessern richtig und sollte konsequent fortgesetzt werden. Nur so ist eine flächendeckende Verkehrsüberwachung und Gefahrenabwehr möglich.
  4. Die Mobilität mit fossilen Energieträgern hat keine Zukunft. Eine Abwrackprämie zugunsten von Benzinern, Diesel & Co. wäre kontraproduktiv. Das Abwracken von funktionsfähigen Fahrzeugen ist auch umweltpolitisch wenig sinnvoll. Die Förderungen für umweltfreundlichere Fahrzeuge (Elektro-Fahrräder, Lastenfahrräder, Elektrofahrzeuge) sollten ausgeweitet werden. Das Gleiche gilt für das Sharing von solchen Fahrzeugen.
  5. Es ist unbedingt darauf zu hinzuwirken, dass Abstandsregeln gerade in öffentlichen Massenverkehrsmitteln eingehalten werden können.  Es muss mit hoher Kapazität gefahren werden, um die Abstände so weit wie möglich einzuhalten. Die Einführung der Maskenpflicht ist eine vollkommen richtige Maßnahme, die wir ausdrücklich unterstützen. Dafür sollten Masken günstig oder kostenlos ausgegeben werden. Gestaffelte Anfangszeiten von Schulen und Betrieben sowie flexible Arbeitszeit-Modelle sind notwendig, um eine Entzerrung gerade in Rush-hours zu ermöglichen. Abstandsregelungen können nur dann eingehalten werden, wenn die Kapazitäten an Steh- und Sitzplätzen in den Fahrzeugen erheblich verringert werden. Das schafft enorme Probleme.
  6. Ein Stabilitätsfond durch den Bund für den öffentlichen Nahverkehr mit Ausgleich der Verluste, die durch Corona entstanden sind, ist für die Kommunen zwingend erforderlich, damit der öffentliche Nahverkehr sicher, hygienisch und komfortabel weiter entwickelt werden kann. Der Mobilitätsbereich und insbesondere die Massenverkehrsmittel benötigen finanzielle Unterstützung, wenn die Bemühungen um eine Verkehrswende nicht um Jahre zurück geworfen werden sollen. Bremen muss sich dabei an möglichen bundesweiten Konjunkturprogrammen beteiligen. Die Taktfrequenz muss sogar deutlich über das ursprüngliche Niveau verdichtet werden. Dafür bedarf es mehr Personal und Fahrzeuge, um auf allen wichtigen Strecken des Landes Bremens die Takte zu verkürzen und damit größere Abstände und mehr Komfort zu ermöglichen. Neben bereits beschlossenen Linienverlängerungen (Linie 1 und 8, Querspange Ost) muss das Netzangebot durch weiteren Netzausbau verbessert werden. Mehr Hygiene, Beachtung von Lüftung und Komfort, die Einhaltung von Abstandsregeln sowie mehr begleitendes Personal sind Voraussetzungen für einen attraktiven öffentlichen Nahverkehr, der für die Verkehrswende im Sinne der Teilhabe vieler Menschen unverzichtbar ist und gestärkt werden muss. Gerade deswegen soll der Ausbau des Umweltverbundes weiter forciert werden und der Verkehrsentwicklungsplan sowie dessen Ergänzungen zügig umgesetzt werden. In Kooperation mit dem VBN muss auch das Angebot mit dem Umland gestärkt werden.
  7. Mehr Hygiene durch intensive Informationen, Einhaltung von Abstandsregelungen aber auch durch begleitendes Personal sowie die Bereitstellung von Desinfektionsmitteln in den Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs in Bremen ist eine Voraussetzung, um einem Vertrauensverlust des öffentlichen Nahverkehrs wirksam entgegen zu wirken.
  8. Die Deutsche Bahn und unsere Regionalbahnbetreiber haben mit ähnlichen Problemen wie der öffentliche Nahverkehr zu kämpfen. Neben der Angebotsverbesserung hat die Verbesserung von hygienisch verbesserten Rahmenbedingungen Priorität.
  9. Die Sharingmodelle aus Carsharing und auch E-Scootern dürfen keinen Vertrauensverlust erleiden. Es ist wirtschaftlich schwer darstellbar, dass die geteilten Fahrzeuge nach jedem Gebrauch desinfiziert werden. Jedoch ist dieser Bereich für die Verkehrswende unverzichtbar. Die Bereitstellung von Desinfektionsmittel durch die Betreiber ist unerlässlich. Carsharing-Betreibern könnte die Miete von Stellplätzen im öffentlichen Raum erlassen werden solange die Auswirkungen der Krise anhalten. Weitere Möglichkeiten im Rahmen des Bremen-Fonds sollten geprüft werden. Das würde den Carsharingbereich entlasten.
  10. Die Digitalisierung durch die Förderung von technischen Lösungen für Videokonferenzen und Home-offices ist Voraussetzung für die Vermeidung von unnötigen Fahrten und Kontakten.
  11. Ride-Sharing-Modelle in der Stadt (dabei fahren über eine Vermittlungsagentur mehrere Menschen in einem Auto in die gleiche Richtung) sehen wir als keine geeignete Alternative zum ÖPNV. Dies wird sich durch Corona verstärken, weil die Abstände im Fahrzeug besonders gering sind. Ride-Sharing  generiert seine Kunden überwiegend aus dem Umweltverbund (insbesondere aus dem ÖPNV) und nur zu einem geringen Anteil aus dem motorisierten Individualverkehr. 

Bremen, den 06. Mai 2020