Solidarität mit den demokratischen Kräften in der Türkei
Die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen muss oberstes Ziel sein
Als die Türkei 1999 offiziell zum Beitrittskandidaten der EU ernannt wurde und die Beitrittsverhandlungen im Jahr 2005 ernsthaft starteten, waren die Hoffnungen in Bezug auf einen Wandel hin zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei groß. Im Zentrum der Beitrittsverhandlungen standen die Verbesserung von Minderheitenrechten und ein erfolgreicher Friedensprozess in der Türkei. Die Verhandlungen führten – zwar in kleinen Schritten – zu wichtigen Verbesserungen und ebneten den Weg zur Verständigung zwischen türkischer Regierung und ethnischen Minderheiten, wie der kurdischen Bevölkerung. Wir Grünen haben die Beitrittsverhandlungen stets unterstützt in der Überzeugung, dass die enge Bindung der Türkei an Europa der richtige Weg sei, um die demokratischen Transformationsprozesse zu unterstützen.
Die Beitrittsverhandlungen wurden leider immer wieder von einzelnen europäischen Mitgliedstaaten – insbesondere auch der deutschen Bundesregierung – in Frage gestellt und mit Forderungen nach der sog. „privilegierten Partnerschaft“ torpediert. Dieses Infragestellen der grundsätzlichen Beitrittsmöglichkeit der Türkei wurde von uns Grünen immer scharf kritisiert, führte es doch absehbar dazu, dass sich die Türkei als nicht gewollt aus den Bemühungen, die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen, immer stärker zurückzog.
Heute, elf Jahre nach dem Start der Beitrittsverhandlungen, schauen wir erschüttert in die Türkei: Die erschreckende Bilanz der Geziparkproteste im Jahr 2013 war der sichtbare Beginn des nicht-demokratischen staatlichen Handelns in der Türkei. Seit dem Putschversuch im Sommer 2016 spitzt sich die Situation in der Türkei in dramatischer Weise zu. Als Maßnahmen der vom Präsidenten Erdogan selbst so bezeichneten „Säuberungen“ folgten Entlassungen und Verhaftungen von WissenschaftlerInnen, LehrerInnen und anderer im öffentlichen Dienst Beschäftigter, Inhaftierungen von JournalistInnen, das Verbot von Frauenrechtsorganisationen, und schließlich wurde mit der willkürlichen Inhaftierung der oppositionellen HDP-Abgeord¬neten und der Parteivorsitzenden offenbar, dass die türkische Regierung rechtsstaatliche Prinzipien missachtet und sich mehr und mehr auf den Weg in eine präsidiale Autokratie begibt. Diese Maßnahmen und die offene Ankündigung, die Todesstrafe wieder einführen zu wollen, wurden von der europäischen Öffentlichkeit scharf kritisiert. Die Wiedereinführung der Todesstrafe verurteilen wir Grünen auf das Schärfste!
Mit großer Sorge beobachten wir den Niedergang der parlamentarischen Demokratie in der Türkei. Im Januar 2017 verabschiedete das von der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP dominierte Parlament im Schnelldurchgang 18 Änderungen der Verfassung des Landes. Damit hat die Volksvertretung sich zum einen selbst entmachtet und zum anderen den Weg geebnet in ein autokratisches Präsidialsystem, in dem Präsident Recep Tayyip Erdogan die Alleinherrschaft in seiner Partei und im Staat übernimmt. Im April 2017 sollen die Türkinnen und Türken in einem Referendum über die sogenannten Reformen abstimmen, nach denen die Trennung der Gewalten aufgehoben, die Legislative, Exekutive und Judikative unter der Macht des Präsidenten gleichgeschaltet sowie die Medien, Polizei und Militär von eben diesem kontrolliert werden. Diese Entwicklung hat die Stabilität in der Türkei nicht erhöht.
Der Menschenrechtsverein IHD stellte mit großer Sorge die wieder eskalierende Polizeigewalt, Folter, Misshandlungen und ungeklärte Todesfälle fest. Der bis zu den ersten Parlamentswahlen 2015 möglich erscheinende Friedensprozess mit der kurdischen Bevölkerung und der PKK wurde nach dem Wahlergeb¬nis der prokurdischen Partei HDP (13%) bedauerlicherweise abgebrochen. Die Wiederholung der Wahlen im Jahre 2015, der wieder aufflammende bewaffnete Konflikt mit der PKK, die Inhaftierung von AkademikerInnen, die schrittweise Abschaffung der Pressefreiheit und auch die mediale Kriminalisierung und Vor¬verurteilung weiter Teile der Bevölkerung nach dem Putsch waren und sind alles Facetten der Autokratisierung der Türkei. Amnesty International kritisiert dabei insbesondere die wochen- und monatelangen Ausgangssperren, kollektive Bestrafungen, die Zerstörung der zivilen Infrastruktur in den kurdischen Gebieten und die Verweigerung des Rechts auf Bildung von Kindern und Jugendlichen. Damit verstößt die Regierung Erdogans gegen die türkische Verfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention. Bei seinem Versuch, in der Türkei eine Präsidialverfassung durchzusetzen, hat Erdogan die Gegensätze zu den Kurden und ihren politischen RepräsentantInnen immer mehr verschärft. Gewaltsame Aktionen der türkischen Sicherheitsorgane in den kurdischen Gebieten nahmen dramatische Ausmaße mit zahlreichen zivilen Opfern an. Darauf hat die PKK mit der Rückkehr zum bewaffneten Kampf reagiert. Wir lehnen auch diese Strategie ab. Sie hat verheerende Folgen und schafft nur neue Gründe und Vorwände für die Regierung Erdogan, ihren autoritären Kurs fortzusetzen. Es gibt keinen anderen Ausweg außer Verhandlungen und die Rückkehr zu rechtstaatlichen Formen der Auseinandersetzung. Noch im Jahr 2005 verkündete die AKP, dass der Weg in die EU „über Diyarbakir“, also über den Friedensprozess führe. Von dieser Politik hin zur Europäischen Union ist derzeit nichts mehr zu sehen.
Zusätzlich zu dem innertürkischen Demokratieabbau beobachten wir sowohl auf türkischer als auch auf kurdischer Seite besorgniserregende Bestrebungen, Landesgrenzen in Frage zu stellen. Präsident Erdogan kündigte am Todestag Atatürks die Vereinigung mit den „Brüdern“ auf der Krim, in Aleppo, Mossul und im Kaukasus an; kurdische VertreterInnen verfolgen Bestrebungen zur Errichtung Kurdistans über türkische Grenzen hinweg. Für uns Grüne ist klar: Territoriale Grenzen sind zu respektieren, und insbesondere für den Konflikt zwischen türkischer Regierung und der kurdischen Minderheit muss die Rückkehr zu Friedensgesprächen oberste Priorität haben. Es muss ein Ende der Gewalt geben: von Seiten der türkischen Regierung ebenso wie von der PKK. Wir Grünen betonen: Wir stehen an der Seite derer, die friedlich für eine demokratische und pluralistische Türkei eintreten, in der Menschen- und Minderheitenrechte sowie bürgerliche Freiheiten gewährleistet werden. Die Wiederaufnahme des Friedensprozesses mit den Kurden ist unser Ziel. Wir lehnen jede Form der Gewalt, der Eskalation und der Verherrlichung von autoritärem und antidemokratischem Gedankengut ab.
Für eine demokratische Zukunft der Türkei und enge Kooperation mit der EU
Wir Grünen verurteilen in aller Deutlichkeit die Aufgabe rechtsstaatlicher Prinzipien und demokratischer Strukturen in der Türkei. Wir wollen daher die demokratisch-zivilgesellschaftlichen Kräfte stärken und solidarisieren uns mit:
- den freigewählten Abgeordneten und BürgermeisterInnen der HDP und fordern ihre sofortige Freilassung;
- den JournalistInnen, KarikaturistInnen, AutorInnen, KünstlerInnen, RichterInnen, StaatsanwältInnen, PolizistInnen, LehrerInnen, BeamtInnen, die unrechtmäßig entlassen oder eingesperrt wurden;
- den ProfessorInnen, DozentInnen, DekanInnen, MitarbeiterInnen, die von den Universitäten verwiesen wurden, weil sie einen Friedensaufruf unterzeichnet haben;
- den Frauen, die sich in verschiedenen Vereinen aktiv gegen Gewalt, Misshandlungen von Frauen, für Kinder- und Flüchtlingsrechte eingesetzt haben und deren Vereine verboten wurden.
Wir fordern die unverzichtbare Einhaltung der Presse- und Meinungsfreiheit, die Rücknahme des Verbots von über 140 verbotenen Fernsehsendern, Radiostationen, Verlagen, Zeitungen und Nachrichtenagenturen sowie die Einhaltung des Versammlungsrechts und den freien Zugang zum Internet, um die Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Verfasstheit der Türkei zu ermöglichen. Hierzu wollen wir beitragen, indem wir vor allem mit unseren lange gewachsenen Netzwerken im Rahmen unserer Städtepartnerschaft mit Izmir die demokratischen zivilgesellschaftlichen Kräfte stützen.
Wir wollen unsere Politik daher so gestalten, dass sie den Demokratinnen und Demokraten in der Türkei nützt. Deswegen unterstützen wir die Entscheidung des Europäischen Parlaments zur „Einfrierung“ der EU-Beitrittsverhandlungen, mit der Chance und Notwendigkeit, im Gespräch zu bleiben. Die Zivilgesellschaft und die Opposition in der Türkei brauchen die Aussicht auf eine europäisch eingebundene Türkei mehr denn je. Wir sind davon überzeugt, in dieser Situation als europäische Staatengemeinschaft klar Stellung beziehen zu müssen und unserem Partner Türkei unmissverständlich deutlich zu machen, dass eine weitere Zusammenarbeit an die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten geknüpft ist. Wir brauchen eindeutige Zeichen der Unterstützung für die demokratischen Kräfte in der Türkei. Um sich in der Flüchtlingsfrage unabhängig von der türkischen Regierung zu machen, erwarten wir von der EU und ihren Mitgliedstaaten, dass sie sich endlich auf eine eigene Flüchtlingspolitik einigen, die ihrer humanitären Pflicht bei der Aufnahme, beim Schutz, bei der Verteilung und Rettung von Flüchtlingen nachkommt. Wir sehen insbesondere auch die Bundesregierung in der Pflicht, deutliche und klare Botschaften an die türkische Regierung zu formulieren. Nur so bestehen Chancen, den Demokratieabbau und die Aushöhlung der Minderheitenrechte zu stoppen. Es gilt, alle demokratischen Parteien zum gemeinsamen Agieren zu bewegen, so wie es der Deutsche Bundestag in seiner Resolution gezeigt hat.
Solidarität statt Spaltung in Bremen und Bremerhaven
Die Entwicklungen in der Türkei führen auch zu einer zunehmenden Polarisierung der Debatten und des politischen Umgangs in Bremen und Bremerhaven. Wir vernehmen mit größter Sorge Beleidigungen und Bedrohungen von Bremerinnen und Bremern mit Wurzeln in der Türkei und sind daher sehr besorgt über den inneren Zusammenhalt in unseren beiden Städten. Wir Grünen fordern die Einhaltung der demokratischen Spielregeln in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Wir erwarten gewaltfreie Formen der Meinungsäußerung, Toleranz und gegenseitigen Respekt im politischen Dialog. Wir rufen daher alle gesellschaftspolitischen Akteure auf – insbesondere in den Bereichen Bildung und interkultureller Austausch –, gemeinsam mit uns dieser Polarisierung entgegenzutreten und das gute und gewachsene Miteinander in Bremen und Bremerhaven zu erhalten und diejenigen zu unterstützen, die friedlich für demokratische und pluralistische Strukturen in der Türkei ebenso wie in Bremen und Bremerhaven eintreten.
Bremen, 6. März 2017